Jenseits des Richtens
Ich habe eine gräßliche Angewohnheit. Wenn die Leute so daherreden, versuche ich mir vorzustellen, was das, umgeschrieben in die Realität, ergäbe. Wenn sie irgendeinen "kritisieren", wenn sie vor seinen Ideen "warnen", wenn sie "verurteilen", was er schreibt, stelle ich sie mir in der idealen Situation vor, dass sie alle Macht über ihn hätten. Die Wörter, die sie benutzen, lasse ich ihren Lauf zurück in einen ursprünglichen Sinn nehmen: "zerstören", "schlachten", "zum Schweigen bringen", "begraben". Und ich sehe den strahlenden Staat am Horizont, in dem der Intellektuelle im Gefängnis säße und natürlich aufgehängt würde, wenn er außerdem noch Theoretiker ist.
Jenseits des Richtens, das wahrscheinlich eines der einfachsten Dinge ist, wozu die Menschheit imstande ist, ein Gespräch über Geschriebenes, über Kunst zu führen, gehört nicht zu den einfachsten Dingen, ist nicht besonders populär und verbreitet und im großen Kreis auch kaum umsetzbar. Dennoch hat sich der Mittenwalder Salon genau diesem Ziel verschrieben: eine Kritik zu üben, die nicht richtet, sondern einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft, die nicht Urteil auf Urteil anhäuft, sondern möglichst viele Existenzzeichen sammelt; sie würde sie herbeirufen, sie aus ihrem Schlaf rütteln.
Zitiert wird hier die Passage eines Interviews mit einem sehr bekannten Philosophen, der - für dieses Interview - anonym bleiben wollte, aus Sehnsucht nach der Zeit, in der - da ich völlig unbekannt war - das, was ich sagte, einige Chance hatte, Gehör zu finden.
Die Maske der Anonymität erlaubte dem Philosophen, sich unters Volk zu mischen, mich direkter an den eventuellen Leser zu wenden, an die einzige Person, die mich interessiert: "Da du nicht weißt, wer ich bin, bist du nicht der Versuchung ausgesetzt, nach den Gründen zu suchen, warum ich sage, was ich sage, was Du liest; nimm Dir die Freiheit, Dir ganz einfach zu sagen: das ist wahr, das ist falsch. Das gefällt mir, das gefällt mir nicht. Punkt, Schluß."
Würde der Philosoph noch leben, der Mittenwalder Salon würde ihn auf der Stelle einladen, und käme er als ein Maskierter! So aber können wir uns nur noch sein Credo auf die Fahnen schreiben, zur freien Rede und verlebendigenden Kritik einladen, auf dem nächsten Salon, der in Bälde seine Pforten öffnet und sich freut, das Gespräch mit Ihnen, verehrtes Publikum, wieder aufzunehmen. Wann genau das sein wird, wird dieser Tage hier bekannt gegeben.
Bis dahin wünschen wir Ihnen Gedanken jenseits des Richtens, wo man das Gras wachsen sehen, dem Winde zuhören und den Schaum im Flug auffangen und wirbeln lassen kann.
Geheimnisvoll & voller Tatendrang
Ihr Mittenwalder Salon im Januar 2008
schoenfeldt - 10. Jan, 12:44
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