Nach dem Salonabend saßen Christoph Hübner, der Regisseur des Films, Tina Bara, Fotografin und Sabine Schönfeldt noch in der Kneipe nebenan (vermutlich Wiesenstraße 61) und resümierten den Abend. Der Qualm stand im Raum, die wenigen Gäste sahen zwar schon ziemlich mitgenommen, aber nicht, wie so oft, abstoßend und aggressiv aus. Der Wirt, ein Iraner, legte irgendwann Chopin auf, seine Rausschmeißermusik, und erwies sich bei weiteren Nachfragen zu seiner Person als ausgezeichneter Kenner der Berliner Kunst- und Musikszene. Ein zweiter Salon mit weniger Publikum als der erste, der Mittenwalder Salon, der an diesem Abend etwa 25 Gäste versammelte.
In der Kneipe sprachen wir darüber, dass man den Film anders verkaufen müsste als er gemeinhin verkauft wird: Thomas Harlan - Sohn von Jud-süß-Regisseur Veit Har... und so weiter. Das Problem ist vermutlich, dass die Masse
Thomas Harlan (Foto) nicht kennt und dass Themen im Nahbereich nationalsozialistischer Vergangenheit nur mit schwerem Geschütz (Stars oder Sensationen) Anziehungskräfte entfalten können.
Die Erfahrung mit dem Film zeige aber, so Chripstoph Hübner, dass die Leute, die den Film gesehen haben, sehr begeistert, angerührt und angefüllt seien, aber nie, wenn ihnen nicht jemand den Film persönlich empfohlen hätte, selbst auf die Idee gekommen wären, ihn zu sehen. Kürzlich gewann der Film einen
Publikumspreis in Würzburg. Und auch auf dem Mittenwalder Salon waren die, denen der Name Harlan vorher nichts gesagt hatte, sehr überrascht von seiner Wirkung. Herauszufinden, was es ist, was diesen Film zu sehen so lohnenswert macht, ist eine interessante Aufgabe. Denn dieses Etwas hat vermutlich nur mittelbar mit der Person Thomas Harlan und auch nur mittelbar mit Nationalsozialismus zu tun. Vielleicht entspringt die inspirierende Kraft dem Umstand, dass man einem Film und einer Person dabei zusehen und zuhören kann, wie das im Leben Unbeabsichtigte eine Persönlichkeit hat hervortreten lassen, die sehr gut damit leben kann, ihr Ich im Bereich des Unwichtigen zu wissen und zu wünschen und aber gerade darüber etwas entstehen zu lassen, das nur mit einem solchen Ich sichtbar werden, Spuren hinterlassen kann. Vielleicht ist das ja nichts anderes als das, was Buddhisten lehren: Vergiss dein Ich und das Leben wird sich zeigen. Im Fall von Thomas Harlan ist da etwas zusammen gefallen, was auch ganze andere Entwicklungen denkbar macht:
"Ich bin der Sohn meiner Eltern. Das ist eine Katastrophe. Das hat mich bestimmt. Bis 1945 war das ein Glücksfall." hat er im Gespräch mit Jean-Pierre Stephan (
Jean-Pierre Stephan, "Thomas Harlan - Das Gesicht deines Feindes", Eichborn Berlin 2007) gesagt.
Das Ich ist in einer ganz anderen Weise gefordert als es das Ich eines Sohns unbekannter, nicht schuldiger Eltern wäre. Die Katastrophe erweist sich heute, von hinten aufgerollt, als wiederum gewendeter Glücksfall, als etwas, woraus etwas geworden ist: nicht "nur" die Literatur, die Sprache Harlans, gesättigt von Geschichte, sondern gerade, dass jemand mit einem solchen biografischen Hintergrund, es vermag, ein immer unpersönlicher werdender Zeuge von (Nachkriegs-)-Geschichte zu werden und auf diese Weise "Lust auf den Umgang mit Wahrheit" zu machen.
Wahrheit und Interesse sind von ihrer Natur her nur mit Vorsicht vereinbar. Ein interesseloses Gucken, Erkennen kommt ihr vielleicht am nächsten, eines, das nicht voreingenommen ist. So ist wahrscheinlich auch zu erklären, warum eine Szene des Films, jene, in der Harlan von einem Abendessen bei Hitler erzählt, immer wieder hervorgehoben wird, nicht, weil sie sensationell wäre, weil sie von Hitler handelt, sondern weil Thomas Harlan sich mit seiner Erzählung jenseits von gängigen Denkmustern bewegt, weil die Erzählung der Zeugenschaft eines Kindes entspringt, das nichts von Gut und Böse weiß und vermutlich deshalb sehr viel von der Wirkung Hitlers wahr genommen hat. Sicherlich wäre es falsch zu behaupten, Thomas Harlan sei ein interesseloser Mensch, ganz im Gegenteil scheint er hochinteressiert gerade am "4. Reich" (so der Titel eines Buchprojektes, das er aber aufgeben sollte) zu sein, jenem Reich, das sich stillschweigend im Nachkriegsdeutschland aus denselben Leute speiste, die auch schon im Kriegsdeutschland Macht inne hatten. Aber das Interesse war nicht mit einem vorab schon feststehenden Ziel verbunden, entstand vielmehr aus zufälligen Entdeckungen in schlecht geordneten polnischen Archiven, entwickelte sich zu einer Leidenschaft, die den Tätern immer näher kam, bis kaum noch Unterschiede zwischen Harlan, dem Entdecker und den Tätern bestand, brach ab, weil die durch die Beschäftigung erzeugte Nähe zu den Tätern einen „unendlichen Ekel vor sich selbst“ zur Folge hatte, um schließlich auf andere Weise, vielleicht souveräner und Jahre später von den Tätern erzählen zu können.
Einen interesselosen Zeugen kann man Harlan insofern nennen, als er
ins Offene (ein Begriff Hübners) lebt, Absichten, wie er im Film erzählt, zwar gehabt habe, aber nie hätte verfolgen können, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht verfolgbar waren, Unfälle und Zufälle führten in andere Richtungen, eben in die Richtung des Offenen. Am Anfang des Films steht denn auch die Erzählung Harlans, in der er in einem sowjetischen Hotel auf eine Tür stößt, die angelehnt ist und den Weg zu einer Busfahrt ins Unbekannte ebnet, wo ein Russe Harlan in seine Wohnung zieht, ihm einen Koffer zeigt, in dem sich Berliner Zeitungen aus dem Jahre 1929 befinden und ihn wieder verabschiedet. Die Begegnung verlief nahezu stumm, schuf den namenlosen Zeugen einer namenlosen Existenz.
Das Interesselose, ins Offene Gesehene ist auch Kennzeichen der Arbeit Christoph Hübners (Regie) und Gabriele Voss’ (Montage, von ihr erschien das sehr empfehlenswerte Buch
"Schnitte in Raum und Zeit", Verlag Vorwerk 8).
Typisch für ihre Arbeiten ist das Warten, das Warten auf die Momente, wo Fragen (im Portraitierten) entstehen, die man vorher nicht weiß, die man nicht vorbereiten kann, die aufkommen. Hier vermute ich die Entstehung der Wirkung, die der Film für viele hat: Eine Lust mit Wahrheit umzugehen, sei sie wie sie sei. Sie wird gewinnbringend sein. Darin haben sich Hübner und Harlan getroffen, im Offenen.
Ins Offene geriet auch der Salon. Das Gespräch war anregend. Im Nachhinein denke ich, es hätte mehr Informationen vorab geben müssen, die Absicht war da, wurde durchkreuzt von nicht planbaren Unfällen. Gerne würde ich diesen Salon einfach nochmal stattfinden lassen.