Sonntag, 5. November 2006

Nachlese zum Mittenwalder Salon am 22.9.2006

Salonfoto-Glaeser Der Mittenwalder Salon stellte am 22.9.2006 zwei Lyrikerinnen (Sonia Solarte und Vera Schindler-Wunderlich) und eine Prosaistin (Katharina Tabata Lippert) vor. "Beeindruckend" war einer der häufigsten Kommentare zur Lesung, die Vera Schindler-Wunderlich eröffnete. Rhythmisch durchkomponiert irren ihre Gedichte wie ein Rap in einer ihm fremden Welt durch die Tagesabschnitte eines Büro- und Parlamentsalltags, in dem Wörter wie "hinlänglich", "Teilprojekt", "Antrag", "Stellen", "Konzept" oder "Amt" ihre ganze, sonst immer sträflich übersehene Kraft und Schönheit entfalten dürfen. Gerade die diesen Wörtern gerne unterstellte Humorlosigkeit kombiniert mit einem atemschnellen, die Wörter wieder in die Flucht schlagenden Rhythmus stimmt verdächtig heiter – verdächtig, weil nichts Heiteres verhandelt wird unter den Wörtern, nichts Geringeres nämlich als beispielsweise „unsere Stellen“ – hier nachzulesen unter „Texte“. Das Publikum geht mit, hält den Atem an, lacht, ohne Zeit zu haben, sich zu fragen, warum, denn schon unterwirft sich das nächste „Protokoll“, der nächste „Amtsplan“dem zwingenden Metrum lyrischer Sprache, bis diese am „Maiabend“ endlich ein wenig zur Ruhe kommt. Pause. Musik vom DuoKlangart (Cornelia Bernadette Burdack & Pauline Jaroszewski), dessen Stückauswahl (Poulenc, Sonata for Piano Four Hands, Prelude, Rustique, Finale) ebenfalls dem Rhythmus und der Metrik der Textur folgt. Pause.

Prosa. Katharina Tabata Lipperts Roman „Wer/Wen“ kommt staubtrocken daher, wie das Schulterzucken eines weiblichen Subjekts deutsch-deutscher Geschichte, kein ahnungsloses, aber doch ein unbeteiligt-beteiligtes Schulterzucken, das bereit ist, dem versprochenen Glück welcher Ideologie auch immer wenigstens nicht im Wege zu stehen. So geschieht’s, als die Freundin der Protagonisten für dieselbige einen Partner sucht, per Kontaktanzeige. Historisch befinden wir uns im Vorwende/Nachwende-Ost-Berlin. Die Zuschriften, die die Protagonistin erhält, offenbaren in grotesker Weise die Selbst-Ideale der männlichen Bewerber. Schulterzucken: Man muss nehmen, was man kriegen kann, oder? Das Publikum lacht, ist still, horcht auf… Eine der wichtigsten Fragen später, im Salongespräch, wird sein, was nun mit dem unveröffentlichten Manuskript geschieht. Aber erst einmal Musik (Fauré, Dolly, Suite pour 4 Piano, op. 56, Kitty, Mi-a-ou).

Und dann Sonia Solarte. Sie hat sich vorgenommen, ihr erstes Gedicht zu singen, was sie auch tut. Auf Spanisch. Solo. Ihre Stimme erzählt auch ohne, dass man die Worte verstünde, genug, erzeugt die Illusion einer Weltenstille, eines allumfassenden Innehaltens und Schweigens, in dem nur ein einziges Lied zu hören ist, eine einsame Melodie, deren Existenz alleine schon ausreicht, die Toten zu besänftigen. Vielleicht ist das nicht nur Sonia Solarte, sondern auch der seltenen Gelegenheit zu verdanken, eine frei singende Stimme ohne jede Verstärkung oder Begleitung zu hören. Was Gesang kann! Die folgenden Gedichte werden in spanisch und dann in deutscher Übersetzung vorgetragen. Ihre Welten sind papieren, so jedenfalls suggeriert es der Titel ihrer Sammlung, der „Papierwelten“ heißt. Papieren sind sie, weil die ersehnte Welt noch nicht existiert. Trotzdem: Ein Drang zur Freude ist da, wie es in einem der Gedichte heißt, seltsam, woher er kommt, aufregend, wohin er geht. „Ich komme wieder demnächst“, verspricht das lyrische Ich, „mit Liedern ohne Mauern“. Werden sie noch besser sein als die ummauerten? Musik (Fauré, Suite, Le Jardin de Dolly, de Falla, Danse Espagnole).

Erst nach dem Gespräch komme ich auf die Idee: Ich hätte Brechts Ausspruch vom Glück, in zwei Diktaturen gelebt zu haben, in die Runde werfen können. Das dichterische Glück, verboten zu sein. Im Gespräch selbst geht es um die politische Situation in Kolumbien, der Heimat Solartes, um den Hintergrund der Gedichte näher kennenzulernen. Wie es sich im Exil lebe, ist eine Frage an Solarte. Schwierig ist ihre Antwort. Ob aber die Fremde nicht auch dazu inspiriere, die eigene Heimat aus anderer Perspektive kennenzulernen. Solarte überlegt. Die Frage nach der Politik lenkt das Gespräch in die falsche Richtung, droht es in die Betroffenheitssackgasse zu drängen, was Esther Andradi (Autorin u. a. von „Über Lebende“, Miniaturen, teamart Verlag) offenbar dazu ermuntert, die Sprachmacht der Gedichte Solartes dem sinnreduzierenden Zugriff aufs Politische zu entziehen, sie in die barocke Tradition spanischsprachiger Lyrik einzuordnen und im selben Atemzug zu fragen, welche Wurzeln die Lyrik Schindler-Wunderlichs habe, so etwas kenne sie nur aus der „argentinischen Bürolyrik“! Schindler-Wunderlich erzählt in pointierter, ja fast dichtender Weise: von ihrer Leidenschaft für alles, was lyrisch springt und tanzt (sie erwähnt als Favoriten den englischen Dichter Gerard Manley Hopkins) und von ihrem Entzücken über das Potential eines eigentlich „unpoetischen“ Wortschatzes, wie sie ihn auf einer Verwaltungsstelle entdeckte. Diese Vorliebe brachte sie mit einem berndeutschen Gedicht von Kurt Marti auf den Punkt, das hier allerdings übesetzt werden soll:

hommage à rabelais

die schönheit
der wüsten wörter
ist ein brunnen
in der wüste
der schönen wörter

Über Lyrik zu sprechen, ist eine Kunst für sich. Insbesondere, wenn die Gedichte nur gehört und nicht gelesen werden konnten. Was bleibt, ist flüchtig, lautet ein Paradoxon Heiner Müllers, das mir zur auditiven Rezeption von Lyrik durch den Sinn schießt.
Aber über Prosa kann man sprechen. Über „Wer/Wen“. Was der Titel denn bedeute ist eine Frage an Katharina Tabata Lippert. Wer wen beobachte, ist ihre Antwort. Wo die Unterschiede zu sehen seien zwischen einer ost- und einer westdeutschen Heldin, ob es überhaupt welche gebe, ist eine weitere Frage. Gerade der Umstand, dass Lippert nicht nur die Unterschiede auf Teufel komme raus betont, sondern die Gemeinsamkeiten individuellen Erlebens in DDR und BRD, zulässt, macht diese Geschichte interessant und trotz ihrer Einbettung in historische Umbrüche zeitlos, denke ich im Taxi auf der Rückfahrt. Der Mauerfall beispielsweise taucht an den Wahrnehmungsrändern auf, wie ein zu lautes Gedröhn, das einem die Sinne rauben will, aber nicht kann.

Und was geschieht denn nun mit „Wer/Wen?“. Das Manuskript ist schon durch die Werkstatt des LCB (Literarisches Colloquium Berlin) gegangen und hat auf dem Tisch verschiedener Verlage gelegen. Die Lektoren zeigen sich interessiert, unterstellen aber der potentiellen Leserschaft ein mangelndes Interesse an „DDR-Geschichten“. Der Bedarf an diesem Thema sei gesättigt. Das Salonpublikum ist empört, empfiehlt Lippert, keinesfalls aufzugeben, ihre Geschichte sei außerordentlich interessant, spannend und unterhaltsam. Vielleicht, denke ich, sähe der Büchermarkt ganz anders aus, wenn die unveröffentlichten Manuskripte erst einem Publikum vorgestellt würden, bevor sie der Entscheidung vermeintlich marktorientierter Verlage unterworfen werden? Vielleicht auch nicht. Wie auch immer: „Wer/Wen“ jedenfalls wäre schon längst veröffentlicht!
Alle vorgestellten Texte sind wie immer hier nachzulesen. Und wenn Sie, verehrter Leser, noch etwas dazu sagen möchten, im späten Nachhinein, so fühlen Sie sich dazu herzlichst eingeladen vom

Mittenwalder Salon
Sabine Schönfeldt
Christian Keil

Trackback URL:
https://literatursalon.twoday.net/stories/2894043/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Erinnerungsräume am 24....
Wenn Sie sich erinnern, welche Räume öffnen sich? Inneres...
schoenfeldt - 3. Apr, 11:30
Ins Offene - Nachbetrachtung...
Nach dem Salonabend saßen Christoph Hübner, der Regisseur...
schoenfeldt - 13. Feb, 16:11
Ganz Russland hinkt –...
Ein krankenhausähnlicher Gang, der Blick aus einem...
schoenfeldt - 22. Jan, 21:07
Jenseits des Richtens
Ich habe eine gräßliche Angewohnheit. Wenn die Leute...
schoenfeldt - 10. Jan, 12:45
Texte des Mittenwalder...
Vera Schindler-Wunderlich Alp traum Jemand weiss,...
schoenfeldt - 12. Nov, 11:40

Status

Online seit 6655 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 29. Aug, 16:41

Impressum

Mittenwalder Salon

Berlin



Gemäß § 28 BDSG widersprechen wir jeder kommerziellen Verwendung und Weitergabe unserer Daten. Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, liegen die Urheberrechter für Texte und Fotos beim Mittenwalder Salon. Sie sind nicht berechtigt, die Materialen ohne unser Wissen zu veränder und/oder weiterzugeben, oder gar selbst zu veröffentlichen.



Falls Sie vermuten, dass von dieser Seite eines ihrer Schutzrechte verletzt wird, teilen Sie das bitte umgehend per Email mit, damit schnellstmöglich Abhilfe geschaffen werden kann



Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.

Credits

powered by Antville powered by Helma

sorua enabled
xml version of this page

twoday.net AGB

Site Meter