Samstag, 4. Februar 2006

Die Nacht

Es ist Nacht. Die Grenzen fließen und doch sind sie wach. Achach. Haben sie nicht gesehen die Grenzen, wo Mondschein und Sonnenlicht sich küssen und schlagen im Dunkel, im Hellen, wo Ödipus in den Mutterschoß kroch und Ödipus-Vater den Sohn nicht roch. Geschichte ist Nacht, so dunkel und trüb, als wäre sie nicht, als ticke sie nicht präzis wie ein Uhrwerk, wo Ophelia im Wahnsinn ihr Lied singt, ihr ewiges Lied: „Gute Nacht, süße Damen! gute Nacht! gute Nacht!“ Und Königinmutter ihres Sohnes Geliebte, Ophelia, noch immer verrät und vernichtet, die schöne Ophelia, achach. Das elektrische Licht hat es auch nicht besser gemacht. Die Angst vor der Nacht wich vor Verstand im Verbund mit dem künstlichen Licht. Jetzt plapperts und frißts in der Nacht, man wird dick in der Nacht – und sieht fern ohne Ferne, die Ferne unterdessen verloren, vergessen, gebongt und geschenkt, wo man, wo Ödipus sich erkennt. Und Mann-Hamlet sich mit Frau-Ophelia vereint und Mütter die Väter nicht töten, und Väter nicht verschwinden im Muttersohnversteck, das Zepter weg, nie genommen, du Vater, du Ungebildeter, du Dummer du, hast nicht gesehen, was die Absicht war hinter dem Mutterschreck: Schlagt die Liebe tot, auf dass wir sie nie wieder wollen, auf dass sie uns nicht mehr treibt, auf dass wir nie wieder ihrer Not unterworfen, schlagt die Liebe tot, erstickt sie, wir werden freier sein ohne sie, ohne den Wunsch nach ihr. Wir werden töten können ohne zu reuen und der Tod ist notwendig wie der Tod. Hau ihm eine rein in die Fresse, dem Tod, er wird doch kommen, so komme er von unserer und nicht von Gottes Hand, dieses Mannes, dieses schrecklichen Mannes, der nicht wusste, wos lang geht und Unheil hat angerichtet auf unserer Welt, seht seht. Eine schwarze Katze schleicht durch sie hindurch, schleckt sauer gewordene Milch, labt sich satt an den Resten der Straßen, die leergefegt sind, seit Natur ihre Trümpfe gegen uns ausspielt, die Böse. Wir müssen auch sie besiegen, damit wir, nun ohne Liebeswunsch und ohne Natur, besser leben, einfacher, schnell und unkompliziert. Die Katze wächst wie’ne Riesin, in Himmel, ihr sanfter Schritt, ein trauriger Ritt voller Grazie, seht seht, und über die Grenzen der Nacht klettern sie und bluten, dass ei’m Hören und Sehen vergeht, zurück in die Wüste, ihr Ödipusse, kapert die Busse und macht eure Aufgabe selbst. Hier ist keine Hilfe, kein Platz, gibt schon zu viele von euch und eine Lösung ist das schließlich auch nicht. Zurück in die Wüste, haut dem Mugawe den Kopf ab, mit einem Säbel sehr groß, auf den Teller mit ihm, wie in alten Zeiten, und zeigt ihn den Obdachlosen in euren Breiten. Jeder Mut braucht einen Verrat, nun los, lasst euch von der Wüste nicht irre machen, ihr werdet gewinnen mit eurem Wunsch nach Freiheit, begeht eure Tat!
Wie gefährlich dieser Wunsch, sagt Ophelia und stirbt am Wahnsinn, an die Liebe zu glauben. O Ophelia, welch Irrtum, Liebe ist nichts für Große, nur für die Kleinen, auch für sie nur in Maßen vorhanden, Ophelia, lass stecken den Wunsch nach Liebe, verheimliche ihn vor jedem, du wirst besser dastehen, wenngleich du dann sterben musst, aber ist ja auch egal, wo dein Tod doch der ästhetischste der Kunst war, was für ein schöner Tod, dein Sterben hat sich gelohnt, Ophelia, für die Schönheit, die ein Schatten ist, ein Kerzenschein in einer Höhle. Die Schatten sind wir, glauben wir, klein und häßlich, voll Neid und Gier, aber in Wahrheit, so sagte der schäbige Gott, der kein Gott war, weil er nicht wusste, wos lang geht, aber in Wahrheit, sagte der dumme Gott, sind wir nicht Schatten, wir sind groß und so licht, wir sind einzigartig. O dummer Gott, was streust du für Dummheiten in die Welt, sie ist uns vergellt, seit wir sie nicht haben, die Ruh und die Lieb, die Welt ist dahin, dummer Gott, bist du blind und siehst du die dunklen Windungen nicht, du Verdränger, du Gott, du depperter Depp du, wie konntest du nur sowas versprechen und dann nicht halten und dann noch die Mörderinnen der Liebe schicken, Himmel, Gott muss tot sein, tatsächlich, der Verstand wohl auch, so lasst uns uns zu Göttern machen und über Tod und Leben richten.

Es ist Nacht. Die Grenzen sind fließend und doch sind sie wach. Achach. Sie reden und trinken und fernsehen ohne die Ferne zu kennen, die so schön ist, so licht, so groß, aber sehen, sehen können sie sie nicht blind geworden durch Hass und Neid, glauben, zu wissen, was richtig, was falsch und sehen nur Schatten, den Wurf einer Kerze, keines großen Lichts.

Lasst die Ophelias sprechen, die toten Liebenden, lasst sie erzählen, was ihnen widerfuhr, wie ihr Sehnen nach Liebe gestraft und enttäuscht wurde und warum sie glaubten, es sei doch richtig und warum sie fast, nein, nicht fast, warum sie gestorben sind für die Liebe, mit Blumen umkränzt, von der Hoffnung dunkel durchweht, man könnte Schmerz angesichts ihres Verlusts empfinden, einen Schmerz, wie nie gekannt, so tief und allumfassend, so tröstend-erlösend, dass selbst Hamlet endlich seinen Vatergeist beruhigt und sagt: Magst du auch getötet sein, lass stecken, es war großes Unrecht, aber nun ist Schluss, Mutter stirbt sowieso irgendwann und glücklich wird sie nimmer. Aber Ophelia will ich glücklich machen, sie soll lachen und wachen, nicht nur lachen im Traum, wie alle Fraun, ach Vater, so sprich und halte den Schmerz aus, den der Verrat dir verpasste, erzähle und singe Rhapsoden als Geist, als Nachtgestalt, nimm deinem Herzen die Fesseln ab, und lass die Menschen hören, was verschmähte Liebe schmerzt, so schmerzt, hier sitzt des Rätsels Lösung aller menschlichen Tragödie und auch Komödie, haha, im Liebesschmerz, in der verschmähten Liebe. Der Größenwahn der Menschen zu glauben, wir könnten auch ohne sie. O Souveräne dieses Planeten, ihr irrt und werdet bis ans Ende der Welt weiterirren, es werden noch viele Ophelien sterben und viele Hamlets rasen und viele Hamlet-Mütter ihre Ehemänner, die Väter töten, noch viele, sage ich, bis zum jüngsten Tag, dann aber werden die an der Liebe Gestorbenen das Wort haben und sie werden sich nicht rächen, sondern nur erzählen von ihrem Schmerz und ihrem Scheitern und das Weinen wird euch wieder geschenkt sein, der jüngste Tag wird der schönste eurer Existenz sein.

Ophelia: Ich liebte und liebe noch einen Mann. Blond war er und von traurigem, verwirrtem Gemüt. Als kleines Kind spielte er gern und gluckste und jauchzte, dass es eine Freude war, seine großen Augen blickten in eine gute Welt und strahlten, wenn Mutter sich näherte und strahlten, wenn Vater daherkam, von den schwierigen Tagesgeschäften, im rotsamtenen Mantel mit Pelz bestückt zu Ehre des Königs, und ein bisschen spielte mit seinem süßen Sohn, diesem kleinen, entzückenden Wesen, das sich freuen konnte über jeden Stein und jeden Sandkorn und alles liebte, was nicht niet- und nagelfest war, und alles liebkoste, als sei alles nur zur Liebe da. Dieses kleine, so entzückende Wesen, lernte die Fortbewegung Schritt für Schritt und ritt mit Vater auf die Jagd, zu töten Wild und Wachteln, da aber schrie der kleine Hamlet und wollte Vater hindern, zu schießen. Nein, nein, nein, schrie der kleine Hamlet verwzeifelt, und Vater wusste, dass er männlich sein musste, das Töten, das notwendige Töten zu lehren, seinen kleinen Sohn zu lehren. Der Sohn aber, kaum des aufrechten Gangs mächtig, sah in die Augen des jungen Hirschs, der auf ihn, den kleinen Hamlet, zulief, neugierig und voll der Lust, mit ihm, dem Menschenkind zu spielen. So, die Augen, vor Liebe und Neugier glänzend, schoss der Vater ihn tot, mitten im Lauf, und Hamlet, der kleine Hamlet weinte, er weinte und der Schmerz sollte ihn nie wieder verlassen. So ist das Leben, sagte der Vater und sah nicht, dass ein Schatten war, was er für das Leben hielt.

Es ist Nacht überall, Schlaf und Tod, zum Verwechseln ähnlich und doch ganz gleich, achach, wer spricht hier und wacht über die Nacht, der Vater, die Mutter, das Kind, so sprich, du dunkle Macht, lass alle Ophelias und alle Hamlets aus ihren Gräbern steigen und weinen und singen: Das Leben ist eben so, das Leben ist eben so! Ist das Leben eben so?
Der kleine Hamlet schläft wie ein Engel, so friedlich, so unschuldig, so sicher und voller Vertrauen und manchmal weint er im Schlaf, wo die Faun ihm flüstern die ersten Träume von einer Welt, die ihm noch nicht vergellt, weil sie so schön ist, wie jedes Kind weiß. Was weiß jedes Kind? Alles. Jedes Kind weiß alles und vergisst, weil Mutter und Vater sagen, so ist es nicht, es ist so, siehst du da vorne die dunklen Gestalten, sie nahen sich wieder, wie in alten Zeiten. Das Kind aber kann nur Schatten sehen, sagt Schatten, Schatten, nein, sagt der Vater, das sind keine Schatten, das sind Menschen. Schatten, Schatten sagt das Kind und Schatten spielen, Schatten spielen, das Kind krabbelt zur Kerze und pustet sie aus und plötzlich ist alles dunkel und plötzlich ist Nacht und das Kind lacht. Der Vater, die Mutter kriegen nen Schreck, denn alles Sichtbare ist weg. Das Kind lacht und gluckst, aber dann hört es die Stille von Vater und Mutter und fühlt deren Angst und wird still und weint. Jetzt aber schlafen, sagt die Mutter und das Kind ist entsetzt: Jetzt? Wo die Angst kriecht in mein Bett? Jetzt, sagt die Mutter, Angst macht schön müde, wirst sehen, nun geh und die Augen mach zu, dududu, ich sing dir ein Lied, das dich einschläfern macht, keine Angst, dummes Kind, keine Angst, es ist nur die Nacht!


© Sabine Schönfeldt
gelesen am 21.10.2005

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