Dienstag, 16. Mai 2006

Und vor dem Spiegel ist hinter dem Gesicht

Nie ist das anders gewesen. Ihm fällt nicht ein, wann es ge-wesen sein sollte, das letzte Mal anders, oder wo. Immer wie-der läuft alles in seinem Leben auf einen Zusammenprall hin-aus, die Dinge oder Menschen, die zu sehr in seine Nähe ge-raten, scheinen sich ihm unweigerlich in den Weg zu stellen, irgendwann, und manchmal vermutet er hinterher, sie seien allein zu diesem Zweck in sein Leben getreten, er sollte an-ecken an ihnen, vielleicht ist es sein Schicksal, anzuecken, immerfort.
Dafür allerdings sieht er noch ganz gut aus, findet er heute, er schaut in den Spiegel, legt sein Morgengesicht frei unter dem Rasierschaum und ertappt sich dabei, ein wenig stolz zu sein auf sein kantiges Kinn. "Du bist so männlich" hatte die Frau in seinem Bett ihm vorher noch ins Ohr gewispert, das war gewesen kurz bevor er sie dann hinausgeworfen hatte, gänzlich.
Wo doch der Mensch an sich ein Weicher ist, äußerlich weich fast am ganzen Körper, wenn man einmal von Kinn und Ellenbogen absieht, die Knie auch noch hart, ja, fürs Beten in der Kirche, Erlösung muss weh tun, das hatte er als Ministrant gelernt. Für einen Moment sieht er sein Kindergesicht im Badezimmerspiegel.
Er lächelt sich an, versucht, sein unschuldiges Kinderlachen noch einmal abzurufen, doch seine Anstrengung lacht mit, die ganze, im Lauf der Zeit aufgebrachte Anstrengung, die nötig gewesen war, um sich nach jedem Zusammenprall wieder aufs Neue herzustellen, dabei innerlich weich durch und durch, das Harte nur Hornhaut, weich war auch die früher einmal gewesen, erst neulich wieder war er einer anderen, gleich ihm rein äußerlichen Verhärtung in Person begegnet, ein alter Schulfreund, einer der ganz wilden Kerle damals, lange Haare, Lederjacke, und geadelt diese Ungezähmtheit vom geklauten Mercedesstern, vor die Brust gehängt wie eine Trophäe von der letzten Großwildjagd, und jetzt, wie wesensverwandelt, so ganz der Businessman, im mausgrauen Anzug, der ehemals Ungezähmte eine einzige Bügelfalte, die reicht ihm nun bis zwischen die Augen hinauf, nicht ungewöhnlich so ein Werdegang, das weiß er selbst nur zu gut, man lernt nie aus, überlebt so einiges, das Fell wird dicker, und sein Großvater wusste das auch schon zu berichten, was einen nicht umbringt, härtet ab.
Aber da ist dieser Händedruck gewesen, der Händedruck seines Schulfreunds aus noch ungezähmten Tagen, und Druck ist hier der völlig falsche Begriff, sie hatten sich schon, wie Männer es tun, die Hände gereicht zur Begrüßung, doch all das geschäftlich Auftrumpfende, dieses Geschliffene, Gelackte und Polierte des Schulfreunds verriet sich selbst als null und nichtig, in diesem Händedruck, der keiner war, noch selten hatte er etwas derart Weiches zur Begrüßung geschüttelt, zwei Sekunden nur reichten, um die ganze Nachgiebigkeit seines Schulfreunds erneut zu begreifen.
Der hatte sich auch nur getarnt, um die Geldströme nicht an sich vorbei fließen zu sehen, und unter der Tarnung hatte sich das Weiche in ihm erhalten, anscheinend, ein kleiner Rest von Weichheit war sogar sichtbar geblieben, im Vollbart seines Schulfreunds, den der sich hatte stehen lassen, damals wie heute, das fällt ihm jetzt erst, im Nachhinein auf, während er die letzten Bartstoppeln aus seinem Gesicht entfernt, vor sei-nem Badezimmerspiegel.
Genau dieser Vollbart war es gewesen, über ihm, jetzt fällt es ihm plötzlich wieder ein, er hatte nur noch den Vollbart seines Schulfreunds gesehen damals, nachdem er zu Boden gegangen war. Zuvor ein harter Faustschlag auf die linke Au-genbraue, und dann färbte sich das Bild rot.
Wie konnte dieser langhaarige Teddybär es wagen, sich über ihn lustig zu machen, mit schlappen 19 Jahren, die Welt bis dahin nur aus der Schulbankperspektive gesehen, aber den Marx auswendig zitieren können, noch nie einen Pfennig selbst verdient, aber es dann wagen, ihn, den langjährigen Banknachbarn, als angepassten Schnösel hinzustellen, für sein Elternhaus konnte man schließlich nichts, Geld war da nie Thema gewesen, es war da und wollte ausgegeben werden, und wie oft hatte er die ganze Clique ausgehalten, Runden spendiert, geizig war er nie gewesen, und dann hatte der Schulfreund ein Bier zuviel intus und ihn als verweichlichtes Muttersöhnchen hingestellt, mitten in der Diskothek, all die Mädels drum herum, "wo bei anderen das Rückgrat ist, haben sie dir Geldscheine reingeschoben, zum Arsch kucken sie dir schon raus," damit war der herzensweiche Schulfreund zu weit gegangen, das haben ihm die anderen hinterher bestätigt, und er hatte zurück gebrüllt, "geh doch nach Kuba, wenn du mit anderer Leute Geld Probleme hast, zieh rote Socken an und friss jeden Tag Reis mit Scheiß," Ende des Gesprächs, der Faustschlag saß, da hatte sich die ganze Weichheit für den Bruchteil einer Sekunde zusammengeballt, die Narbe ist immer noch zu sehen.
Sanft fährt er sie mit dem Zeigefinger entlang, ganze drei Zentimeter zum Zeichen seines aneckenden Lebensstils, der ihm anzuhaften scheint, oder ist es gar nicht er, sondern immer nur sein Geld, das die anderen als rotes Tuch und Kampfansage ständig missverstehen.
Er hat die Narbe nie als hässlich empfunden, sie lässt ihn verwegener aussehen. Wie er diesen Schulfreund gehasst hatte plötzlich, abgrundtief. Seitdem müssen alle Vollbartträger, mit denen er geschäftlich zu tun hat, ihre Fachkompetenz doppelt unter Beweis stellen, die Bereitschaft zum Zusammenprall ist ihnen ja schon ins Gesicht gewachsen, Schnauzbärte haben es da etwas leichter bei ihm, und die Glattrasierten, die Smarten sowieso, die hatten es ihm schon immer angetan, insofern hatte der Schulfreund damals nicht völlig falsch gelegen, und ja, er hält sich jetzt für liberal, ihm fällt kein Grund ein, warum er sich deshalb schämen müsste, liberal zu sein heißt letztlich doch nichts anderes, als Schluss machen zu wollen mit diesem permanenten Anecken überall, und wenn man die Ellenbogen schon nicht aus der Welt schaffen kann, sollte doch zumindest jeder die Chance kriegen, sie auch vernünftig zum Einsatz bringen zu können, jeder, auch sein Schulfreund schien es ja geschafft zu haben, trotz seines verräterischen Händedrucks.
Das schießt ihm durch den Kopf, während er sein Gesicht mit Aftershave benetzt, und unwillkürlich fährt er sich jetzt über seine Ellbogen. Er fragt sich, ob er das jemals zuvor schon getan hat, und dann cremt er sie ein, mit seiner extra fetthaltigen Handcreme, und von irgendwoher drängt sich ihm da das Bild seines Großraumbüros auf, in welchem er schon in einer Stunde sitzen wird, und alle Kollegen, er eingeschlossen, sind splitternackt, die Körper glänzen wie Speckschwarten in der Sonne, eingeölt von Kopf bis Fuß mit Gleitfett, kein Rempeln mehr und Anecken, nur noch ein freundliches Glit-schen in der Luft, wenn zwei sich versehentlich oder auch in voller Absicht zu nahe kommen, diese Idee gefällt ihm, be-schwingt ihn beinahe, während er immer noch gedankenverlo-ren seine Ellenbogen massiert, bedauerlich nur, findet er, dass das Leben nie so freundlich glitschig werden würde aufgrund eines unglücklichen Fehlers im System.

© Anja Koemstedt
gelesen am 12.05.2006

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