Dienstag, 16. Mai 2006

Alarm. Notturno

[...]
Die Weidenzweige habe ich in einer Gärtnerei am kleinen Wannsee gekauft. Sie haben in einer hohen Vase aus Plastik neben Sträußen von Tulpen in verschiedenen Farben gestanden, es waren normale Tulpen darunter, solche, wie sie schon immer ausgesehen haben, mit glattrandigen Blütenblättern in einfachen Farben, Farben aus dem Kindertuschkasten, rot, gelb, weiß, orange. Dazwischen haben sich Exemplare der neuen Züchtungen verneigt, extravagante Köpfe auf langen Hälsen, eine Art Papageienblumen in auslaufenden, sich miteinander vermengenden Farben, empfindlichen Tönen: Lachs, Scharlach, Violett. Die Weidenzweige haben kahl gestanden neben diesem hoch aufblickenden Meer aus Blumen der Kindheit – den einfachen Tulpen, mit ihren Häuptern gerade und wach sitzend auf robusten Stielen –, und den schwierigen langstieligen Tulpen, die an ihren äußersten Rändern zerfaserten, mit ihren Häuptern schwach und aufgerieben in dem Licht lagen, das die Vorfrühlingssonne an diesem Tag hinter einem dünnen grauen Wolkenschleier über den Himmel verstreut hat. Ich habe mit meinem Arm an dem Blumenwald vorbei zu den Weidenzweigen gelangt, es ist ein großer Arm voll gewesen, der in der Vase gestanden hat, und habe nach vier oder fünf davon gegriffen. Als ich sie im Arm gehabt habe, ist mir ihr Geruch von frischem angeschnittenem Holz in die Nase gestiegen, der Geruch von beginnendem oder gebrochenem Grün. Von den Enden der Zweige hinab ist mir Wasser über die Hände in die Ärmel meines Wollmantels gelaufen. Ich habe gezahlt und bin mit den Zweigen im Arm auf die Straße zurückgegangen, an deren Rändern Reste harschen Schnees gelegen haben.

[...]
Ich bin mit den Weidenzweigen die Straßen entlanggelaufen und habe hier und da mit den Füßen ein Stück Schnee zertreten, der nur noch ein kleines Überbleibsel, das Ende des langen kalten Winters gewesen ist. Ich habe ihn austreiben wollen wohl mit diesen Tritten, den Winter, es hat leise geknirscht unter den dicken Sohlen meiner Schuhe. Die Zweige haben vor meinem Gesicht gestanden zwischen mir und dem Winter und einen Scherenschnitt ergeben, wenn ich sie von meinem Gesicht fort an den Himmel gehalten habe. Es ist später Nachmittag gewesen, blaue Stunde in den letzten Tagen des Februar, der Himmel ist an seinen hinter dem Grunewald abtauchenden und dennoch durch ihn hervorscheinenden Säumen aufglimmend hell gewesen. Ich bin so mit dem dunkelnden Profil der Weidenzweige vor meiner Brust Schritt für Schritt, habe ich gedacht, aus dem Winter hinausgelaufen, die lange Straße hinunter zum See. Streukörnchen sind unter meine Schuhe geraten und ich bin, kurz vor den grauen Flachbauten am Ende der Straße, in die ich gehörte und wo ich mich vor einer Stunde abgemeldet hatte, eine winzige Strecke, eine Ameisenstrecke lang, auf den Kreppsohlen meiner Schuhe über den Asphalt gerollt.

[...]
Einer hat gesagt: also hat sich etwas verändert, das begrüßen wir stets. Er ist gekommen, weil ich der Schwester in ihre Tüchtigkeit hinein von den Krakenarmen gesprochen habe. Sie hat es nicht verstanden. Sie ist wiedergekommen, und hat mich aus dem Bett ziehen wollen wie ein Fischerboot aus den Wellen. Ich habe mit den Krakenarmen um mich geschlagen. Da hat sie ihn kommen lassen. Er hat eine Weile bei mir gesessen mit einer Tasse Tee, der Tee ist neben seinen Worten in der Tasse hin- und her geschaukelt.
Ein anderer hat gesagt: es handelt sich meist um die Liebe. Wie steht es damit. Ich habe wieder auf meine Krakenarme gezeigt, die sich nicht einrollen lassen wollten, und habe gesagt, es sei keine Liebe, sondern ein Rudern im All, sternenweise würde der Sinn verlöschen, ich hätte vergessen wie man das mache, aufstehen, und mit Verstand.
Nicht nur diese Gedanken sind dunkel gewesen, sondern hinter den Neonröhren im Flur der Klinik direkt hat es angefangen, dunkel zu glimmen. Das habe ich an einem anderen Tag dem Teetrinker erzählt, er hatte lange Beine, deren Knie vor seinem in einem Sessel versunkenen Körper steil aufragten, ich habe gesagt, es würde nicht aufhören, zu verlöschen und dunkel zu sein, dabei wüsste ich gut, ich hätte zu tun, das schiere Blicken brächte nichts ein, man müsse doch tüchtig sein. Er hat gefragt: auch in der Liebe?

[...]
In der Nacht, in der mich der Arzt hinter seinen Knien hervor gefragt hat, ob ich auch in der Liebe tüchtig wäre, habe ich in einer knappen Schlafphase von den Weidenzweigen geträumt. Sie waren nackt vom Winter und wuchsen am Ufer eines Flusses. Der Fluss war breit und dicht hinter einer weit in die Aue hineinziehenden Mäanderung gestaut. Das Bild des Staus ist sehr eindringlich gewesen, und ich bin aufgewacht. Mein Mund ist trocken gewesen und ich habe geschwitzt. In einer nächsten Traumphase habe ich den Fluss wieder gesehen, die Stauung des Wassers, und wie Holzscheite auf ihm geschwommen sind und sich an dem Damm gesammelt haben, die Miniatur eines auseinandergerissenen Bandes von gefloßtem Holz. Der Traum ist von dem nassen Holz wieder zu den trockenen Weiden am Ufer geschwenkt. Sie haben nichts weiter getan, als dort zu stehen, lockige, in den Himmel wachsende Arme.

[...]
Dass mich die Ärzte befragt und beobachtet und mir versprochen haben, es werde sich etwas ändern, wenigstens würde ich von einem Zustand zu einem anderen überwechseln, auch wenn sie nicht versprechen könnten, dass der eine sich besser als der andere anfühlen werde, dass ich diese Zuwendung bekommen habe, ist ein zwei Wochen gegangen, auch gerade deswegen, weil ich öfter bei ihnen vorgesprochen habe. Ich habe gedacht, sie könnten mir erklären, wieso es so sei, dass ich das Gefühl gehabt habe, meine Gedanken materialisierten sich, würden auf ganz unmittelbare Weise sich ihren Weg nicht nur durch meinen Kopf, sondern auch durch meinen Körper bahnen. Ich habe das kurz beschreiben sollen, aber wenn ich in die Details gegangen bin, haben sie mich nach meiner, wie sie sagten, ‘Lebenssituation’ zu fragen begonnen, die es doch gar nicht gegeben hat, das ist es ja gerade gewesen, die Materialisierung meiner Gedanken und Gefühle hatte dazu geführt, dass sich mein Platz in den Tagen, die vergangen waren, und innerhalb der Dinge, die ich getan hatte, weil ich dachte, man täte sie oder müsse sie tun, ausgehebelt hatte.
Das Material ist in mir sedimentiert in den zwei Wochen, in denen ich von diesen Gefühlen und von meinen Gedanken erzählt habe. Die Ärzte und eine unüberschaubare Belegschaft von Männern und Frauen in weißen Kitteln haben mich angeschaut, ein grauhäutiger Arzt, den ich nicht aus direkten Gesprächen kannte, hat dabei hinter einem rollbaren Pult gestanden, auf dem sich großformatige Karteikarten gestapelt haben. Er hat in eine der Karten geschaut, wenn ich gesprochen habe, ich weiß nicht, ob er mir zugehört hat, und dabei ist ihm immer wieder eine Tolle weißer Haare in die Augen gefallen. Er hat ein schweres Tweedjacket getragen, jeden Tag ein anderes, immer in einem etwas anders getönten Grau oder Braun. Er hat gerochen, nach Ungelebtem, das habe ich bis zu meinem Bett wahrnehmen können, und ich habe gedacht, vielleicht müsste ich ihn fragen, wie es ihm geht und ihm einmal den Strunk weißer Haare aus dem Gesicht streichen.

[...]
Dann haben sie mich gestraft. Je öfter ich das gleiche gesagt und gespürt habe, dass ich das gleiche gedacht habe immer noch, desto schneller sind sie mit ihrem geräderten Pult an mein Bett heran und wieder von ihm fort getreten. Dabei habe ich abends bereits auf ihr Herantreten an mich gewartet; jedesmal habe ich gehofft, sie könnten mir etwas Neues berichten, was das hätte sein können, darüber habe ich nicht nachgedacht, denn mir ist nichts mehr eingefallen.

[...]
Sie waren enttäuscht, das stand auf ihren Stirnen geschrieben. Der Arzt hinter dem Pult hat sich gar nicht mehr gemüht, seine Tolle nur für einen kurzen Blick auf das Fußende meines Bettes an den Rand seines Gesichtes zu schieben. Ich habe gespürt, wie ein Vorhang zwischen ihnen und mir gewachsen ist und ich habe mir in den Nächten Vorwürfe gemacht. Es sind damals zwei Wochen gewesen, in denen ich nicht geschlafen hatte außer weniger Augenblicke, in denen sich stets ein oder zwei Träume abgespult haben. Auch das Bett unter mir ist enttäuscht gewesen, dass ich nicht schlafen konnte, es hat sich in kurzen Intervallen unter mir bewegt. Ich habe auch davon erzählt, und einer der neben dem Pult stehenden Ärzte, es ist der Langbeinige gewesen, hat gesagt, das seien Sensationen, für die der Geist in der Phase des Hinübertretens in den Schlaf empfänglich sei. Das abzumildern wäre nur möglich, wenn ich einmal ordentlich schliefe, aber ich zeige mich ja generell unempfänglich für ihren Rat, sie würden dies zutiefst bedauern, für mich würden sie das bedauern.

[...]
Einige wenige Male ist die Traube von Ärzten und Schwestern noch an mich herangetreten, dann ist sie mich nur noch umgangen. Das ist auch die Zeit gewesen, in der auf dem grauen Tablett, das zum Mittagessen ins Zimmer gekommen ist, neben dem üblichen Essen und dem Geschirr und Besteck, eine Banane aufgetaucht ist. Ich habe die gelbe Frucht nicht richtig zu nehmen gewusst, aber sie kam jeden Tag. Sollte ich sie essen? Ich habe auf die Tabletts der anderen geschaut, ob sie auch eine Banane bekamen, aber ich war die einzige. Ich habe die Bananen schließlich in meinem Zimmer gehortet, und einen Haufen neben meinem Bett aus ihnen gebildet. Eines Tages ist der Blick einer der Schwestern darauf gefallen und sie ist mich angegangen. Ich habe erklären wollen, es seien doch meine Bananen und so könne ich doch mit ihnen machen, was ich wolle. Der Blick der Schwester hat sich verengt und hat sich tief in mich hineingeschraubt, dann hat sie gesagt, ich solle ihr nichts zu erklären versuchen, ich hätte schon zu viele eigene Gedanken. Sie hat ihren großen Leib an mir vorbei an das Kopfende des Bettes geschoben und nach den Früchten gelangt, die aufeinander lagen und einen süßlichen Duft in das Zimmer verströmt haben. Sie hat die Bananen eine um die andere vor ihrem Busen aufgebaut und gesagt, es gäbe andere auf der Station, die würden sich über die Früchte freuen. Damit hat sie die dünnen Mädchen gemeint, die sich in den Zimmern neben mir aufhielten, und sich mit einer ganzen Gruppe von Schwestern trafen, um mit ihnen den Tisch zu decken, das Besteck, eine Gabel und ein Messer für jede, für keine mehr oder weniger, zu verteilen und dann das Essen zu üben, unverzüglich und ohne Umschweife die Gabel an den Mund zu führen mit den Dingen darauf, die ihr Körper brauchte. Sie hatten nämlich ihre Körper mit zuviel versehen oder sie mit zu wenig bedacht, das mussten sie jetzt ausbügeln. In dem großen Gemeinschaftsraum am Ende des grauen Flures auf der linken Seite des Gebäudes, von meinem Zimmer aus gesehen, haben sie zusammen gesessen. Sie haben die Tür aufgelassen, um das Aushalten des Blickes von anderen auf ihr Essen zu üben. Eine Stille ist von ihrem Essen ausgegangen, in der sich mir der Magen umgedreht hat. Allein das Klirren des Bestecks ist zu hören gewesen, und es hat sich in dem langen Raum des Flures gebrochen, wenn ich darin auf- und abgelaufen bin.
Also sagte die Schwester, es gäbe da andere, die sich über die Früchte freuten, denen sie sie aber leider nicht zukommen lassen dürfte. Ich habe sie endlich gefragt, was die Früchte auf meinem Tablett überhaupt bedeuteten, da hat sie, mit dem angehäuften Bananen vor ihrer Brust, gezischt, man hätte festgestellt, ich hätte einen Mangel.

[...]
Wieso ich denn noch einen Mangel hätte, habe ich die Schwester gefragt, ich hätte doch bereits über Wochen diese Astronautenkost gekriegt. Die Schwester hat gemeint von nichts kommt nichts, nein, sie hat gesagt von nischts kommt nischts und hat ihren Körper durch die Tür aus dem Zimmer geschoben auf den Flur. Ich weiß nicht, ob die Bananen, die weiterhin auftauchten, und die ich nun unter dem Kopfende des Bettes gehortet habe, bis der süße Geruch alles durchdrungen und auf die Flure hinausgerochen hat, meinen Mangel behoben haben. Ich habe sie an einem Abend als einen gesamten Brei verschlungen. Ich habe auf der Terrasse meines Zimmers gesessen, den Kiefern gegenüber, habe die Stille gehört, die von dem Gebäude ausgegangen ist – seine Flure waren von Mädchen und anderen vormals darin Wandelnden leer –, habe auf diesem Archipel aus Waschbeton weit hinaus in den Abend geragt und habe die Bananen in ihrem Brei mit einem Mal allesamt aufgegessen.

[...]


[...] Trotzdem habe ich in diesen Tagen angefangen, Holz zu sein.

[...] Zwei letzte Tage hat es gegeben. An dem einen ist die Schwester mit dem heiligen Namen zu mir gekommen, und in seiner späteren Hälfte bin ich zum kleinen Wannsee gelaufen. Ich habe das Hinausgehen ja gekonnt. Als Holz habe ich mich gut zu den Bäumen stellen können. Später bin ich auf die Gärtnerei gestoßen. Wieder habe ich mich erinnert: was schön gewesen ist. Gärtnereien, Lüfte, wenn sie kalt waren. Ich habe meine langsamen Augen über die Kübel und Vasen streifen lassen, die auf dem kleinen Gelände der Gärtnerei herum gestanden haben. Hyazinthen, gedrungene Armfüllen von dem violettstichigen Blau, daneben die selben Füllen in Weiß. Und dann sind da die Tulpen gewesen. Die mit den glattrandigen Blütenblättern in den einfachen Farben und die Langhalsigen, zusammen ein mich anblickendes Blumenmeer in verschleiertem Sonnenlicht.
Die Weidenzweige habe ich dicht hinter den Tulpen stehen sehen, sie haben vor dem weißlackierten Glasrahmen der Eingangstür der Gärtnerei in einer hohen Vase gestanden. Ich habe nach ihnen gegriffen, das ist wieder ein langer Weg gewesen. Mit den nassen Ärmeln meines Wollmantels bin ich in die Gärtnerei getreten, es ist dort fast genauso kühl wie draußen gewesen, und hat aber nach Frühjahr gerochen. Ich habe einer Frau den Betrag für die Zweige gegeben und habe die Gärtnerei verlassen. Die Zweige habe ich vor meinem Gesicht gehabt auf der leeren Straße, sie sind eine letzte oder erste Idee gewesen, sie sind aus dem Traum gekommen.


© Rike Bolte
gelesen am 12.05.2006

Trackback URL:
https://literatursalon.twoday.net/stories/2018190/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Erinnerungsräume am 24....
Wenn Sie sich erinnern, welche Räume öffnen sich? Inneres...
schoenfeldt - 3. Apr, 11:30
Ins Offene - Nachbetrachtung...
Nach dem Salonabend saßen Christoph Hübner, der Regisseur...
schoenfeldt - 13. Feb, 16:11
Ganz Russland hinkt –...
Ein krankenhausähnlicher Gang, der Blick aus einem...
schoenfeldt - 22. Jan, 21:07
Jenseits des Richtens
Ich habe eine gräßliche Angewohnheit. Wenn die Leute...
schoenfeldt - 10. Jan, 12:45
Texte des Mittenwalder...
Vera Schindler-Wunderlich Alp traum Jemand weiss,...
schoenfeldt - 12. Nov, 11:40

Status

Online seit 6667 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 29. Aug, 16:41

Impressum

Mittenwalder Salon

Berlin



Gemäß § 28 BDSG widersprechen wir jeder kommerziellen Verwendung und Weitergabe unserer Daten. Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, liegen die Urheberrechter für Texte und Fotos beim Mittenwalder Salon. Sie sind nicht berechtigt, die Materialen ohne unser Wissen zu veränder und/oder weiterzugeben, oder gar selbst zu veröffentlichen.



Falls Sie vermuten, dass von dieser Seite eines ihrer Schutzrechte verletzt wird, teilen Sie das bitte umgehend per Email mit, damit schnellstmöglich Abhilfe geschaffen werden kann



Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.

Credits

powered by Antville powered by Helma

sorua enabled
xml version of this page

twoday.net AGB

Site Meter