Dienstag, 16. Mai 2006

Nachbetrachtung: Wann wird man lebendig?

Groschupf, Koemstedt, Bolte hieß das Autorentrio, das am Freitag, den 12. Mai, die Lesung des 4. Mittenwalder Salon mit dem Thema "Tiefenschärfe" bestritt.

Groschupf las aus seinem Debütroman "Zu weit draußen", einer fiktionalisierten Bearbeitung eines Hubschrauberabsturzes in Nordafrika, den Groschupf vor 12 Jahren tatsächlich überlebte. Auf Lesungen habe man bisher immer recht schnell die persönliche Ebene erreicht, womit die literarische Qualität des Textes, nicht zuletzt auch wegen der Betroffenheit, die das Wissen um das authentische Fundament des Textes auslöste, vollkommen ins Vergessen geriet, erzählte Johannes Groschupf bei einem Vortreffen zum Salon. So beschloss man, das Publikum des Mittenwalder Salon auf die "Gemachtheit" des Textes aufmerksam zu machen und vom biografischen Input abzulenken, was gelang und zur Frage führte, ab wann ein Text literarisch werde. Das Erlebnis des Absturzes sei nicht gleich danach erzählbar gewesen, auch wenn der Wunsch, es zu erzählen, schon wenige Minuten nach dem Absturz sehr groß gewesen sei. Aber es sei nicht gegangen, wie tot habe die Geschichte dagelegen und sich nicht erzählen lassen. Es habe Jahre gedauert, bis sie lebendig wurde.

Nicht nur seine, sondern auch die GeschichtenAnja Koemstedts und Rike Boltes seien erstaunlich sachlich gewesen, bemerkte ein Salonbesucher, was einen Teil des Publikums aufbrachte und Rike Bolte, die sich mit "Alarm" und einem spontan vorgetragenen, ungeplanten "Tangotext" dem Publikum empfahl, zu der Bemerkung veranlasste, die emotionale Wirkung einer Geschichte komme doch oft erst durch eine entsprechende Zurückhaltung in der Darstellung zur Entfaltung. Allgemein geraunte Zustimmung.

Boltes "Alarm" erzählt in trockener und dadurch ironischer Weise von der geschärften Wahrnehmung einer Psyhiatrie-Insassin für die Absurdität ihrer Behandlung durch Ärzteschaft und Pflegepersonal, die mit Bananen und Fragen wie "Wie ist Ihre Lebenssituation?" die Patientin nur noch mehr ins Aus befördern, da sie, wie sie sagt, eben keine Lebenssituation habe. Der hintergründige, bebende Humor der Geschichte sei ein Genuss, bemerkte Odile Kennel, selbst Autorin. Zustimmung. Aber dennoch, so ein männlicher Besucher wenige Sessel neben Kennel, habe ihn die Geschichte Groschupfs mehr berührt als die Koemstedts Gesichte auftritt, eine emotionale Beziehung herstellen.
In Anja Koemstedts Erzählung "Und vor dem Spiegel ist hinter dem Gesicht" beschwört ein männlicher Protagonist ein glitschiges Leben, in dem alles glatt und ohne Anecken läuft. Wie Malewitschs Massengesichter, leer und nicht individuell, sei jenem Besucher der Protagonist vorgekommen, berühren könne eine Geschichte doch aber erst, wenn sie vielschichtige Figuren präsentiere. Widerspruch im Publikum. Es gebe ja schließlich auch diese Massenmenschen. Koemstedts Geschichte sei viel zu kurz gewesen, man hätte gern mehr von ihr gehört.
Anja Koemstedt erzählte, dieser Text gehöre zu einem Zyklus, in dem alle Geschichten mit demselben Satz anfingen ( "Nie ist es anders gewesen" ) und mit demselben aufhören (etwa "aufgrund eines unglücklichen Fehlers im System.") Den Spiegeltext habe sie wenige Tage nach einem Treffen mit zwei alten Bekannten geschrieben, die ihr den ganzen Abend erklärt hätten, warum sie nun FDP wählten. Lachen. Sie habe versucht, sich in sie hineinzuversetzen. Lachen.

Zum Schluss steuerte das Gespräch wieder auf Groschupf zu. Manchmal fände er die Fiktion wirklicher als die Wirklichkeit, weil die Fiktion den Menschen verdeutliche, der in der Wirklichkeit oft unter der Maske seines Scheins verborgen bleibe, bemerkte ein männlicher Besucher, und das habe ihm an Groschupfs Text so gut gefallen. "Ja", dachte Groschupf laut, "wann wird man lebendig?"

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